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Autor: Josef Ruhaltinger

Österreich hat in den vergangenen fünf Jahren ein Netz aus Rehabilitationszentren geflochten, das ausschließlich Kindern und Jugendlichen gewidmet sind. Erste Evaluierungen zeigen: Familienbegleitete Kinderreha ist komplizierter als gedacht.

Die Pandemie zeitigt ungeahnte Folgen. „Eine junge Patientin kam mit blutigen Händen zu uns“, erinnert sich Anna Maria Cavini. Sie ist ärztliche Leiterin der Kinder- und Jugendreha Bad Erlach. Cavini und ihr Team kümmern sich – unter anderem – um die mentale Gesundheit junger Patientinnen und Patienten. Die Zuweisung ließ keinen Zweifel: Die junge Patientin hatte sich die Hände wund gewaschen. Sie verbrauchte am Tag eine ganzes Seifenstück zum Händewaschen. Die Kleine hatte Angst, ihre Großeltern anzustecken und zu töten, wie sie sagte. Aus eigenem Antrieb konnte das Mädchen den Waschzwang nicht mehr stoppen.

Psychische Belastungen und Störungen hätten unter Kindern und Jugendlichen „seit COVID dramatisch zugenommen“, konstatiert die Fachärztin der Kinder- und Jugendheilkunde, und: „Vor fünf Jahren hätte dem Mädchen in Österreich noch nicht in einem professionellen Reha-Setting für Jugendliche geholfen werden können.“ Eine Kinder- und Jugendlichen-Rehabilitation, die diesen Namen verdient, wurde in Österreich erst 2016 in Angriff genommen. 2017 wurden die ersten Nachsorgezentren eröffnet, die ausschließlich auf Kinder und Jugendliche ausgerichtet sind. Bis dahin mussten die jungen Patienten in eine Reha-Einrichtung für Erwachsene oder ins Ausland.

Am Prüfstand

Wenn im Laufe des Jahres mit dem Kinderreha-Zentrum im Tiroler Wiesing der sechste Standort eröffnet wird, stehen in Österreich 343 Betten für Kinder und Jugendliche plus 50 Betten für die familienorientierte Rehabilitation bei hämatoonkologischen Erkrankungen zur Verfügung. Dazu kommen fast ebenso viele Betten für Begleitpersonen. Damit ist die Umsetzung des 2012 beschlossenen Rehabilitationsplans fürs Erste beendet.

„Es war ein weiter Weg, bis die Zentren hochgezogen wurden. Und ich bin froh, dass es sie endlich gibt. Aber jetzt haben wir durch die Pandemie zwei Jahre verloren“, ärgert sich Reinhold Kerbl, Primar der Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde im LKH Leoben. Er ist Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ) und einer von mehreren Wegbereitern der Kinder- und Jugendreha in Österreich: „Die Standorte waren infolge der Pandemie über lange Strecken teilweise geschlossen oder sind nur mit schwacher Auslastung betrieben worden. Für eine fundierte Evaluierung bräuchte es mehr Erfahrung im Normalzustand.“ Tatsächlich wurden einzelne Stationen in den Kinder-Rehas auch geschlossen. Bei manchen gilt ein Fortbestand aus wirtschaftlichen Gründen, aber auch Personalmangel als fraglich.

„Kinder wurden in der Rehabilitation lang behandelt wie kleine Erwachsene“, ist Reinhold Kerbl heute noch irritiert. Dabei sei klar, dass Kleinkinder ebenso wie Teenager bis 18 Jahre „nach einem anderen Zugang verlangen als ältere und alte Menschen“. Kinder benötigen familiäre Begleitung und die Einbindung der Eltern auch in die Therapie. Mit dem Österreichischen Strukturplan Gesundheit 2012 und dem dazugehörigen Kapitel der Kinder- und Jungendlichenrehabilitation wurde diesen speziellen Bedürfnissen Rechnung getragen.

„Kinder bis 12 Jahre kommen ausschließlich in Begleitung eines Familienmitgliedes zu uns“, erklärt Veronika Weberhofer das Fundament der familienbegleiteten Kinderreha. Weberhofer ist ärztliche Leiterin der Kinderrehabilitation Wildbad und Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie. „Ein Kind, das eine Traumatisierung hinter sich hat, braucht neben einer Therapie vertraute Menschen in der Nähe, die für das Kind da sind.“ Auch Geschwisterkinder sind in das Reha-Programm aufgenommen. Kinder sind meist Symptomträger für ein ganzes System. Wenn die Eltern in die Therapie miteinbezogen werden, kommt das System besser in Bewegung. Teenager, die über 12 Jahre alt sind und ohne Begleitung in die Reha kommen, haben ebenfalls einen erhöhten Bedarf an Betreuung und Pflege, der über sozialpädagogisch geschultes Personal abgedeckt wird.

Die Architektur der Kinder-Rehas unterscheidet sich daher grundlegend von den Zweckbauten klassischer Rehabilitationszentren: Anstelle von Ein- und Zweibettzimmern gleichen deren Wohneinheiten eher Apartments, in denen auch gekocht und gearbeitet werden kann. Integraler Bestandteil jedes Kinder-Reha-Konzepts sind Kindergärten und schulische Betreuung. Kinderfachärztin Anna Maria Cavini: „Die Kinder sind in vielen Fällen seit Wochen oder Monaten nur an Krankenhausumgebung gewöhnt. Da wird jeder Tag mit anderen Kindern zum gewonnenen Tag.“

Zeit für kranke Kinder

Die Dauer des Rehabilitationsaufenthaltes beträgt bei den hämatoonkologischen Patienten vier Wochen, bei Mental Health-Problemen sechs Wochen, in allen anderen Indikationen drei Wochen. Familienbegleitung wird bei diesen Zeitstrecken zum Problem für die Begleitung, vor allem wenn Vater und Mutter berufstätig sind. Nicht selten muss die Oma einspringen. Thomas Wieser, Gründer und Obmann des Fördervereins der Kinder- und Jugendrehabilitation, fordert daher „für alle Indikationen einen Rechtsanspruch auf vier Wochen bezahlte Freistellung während des Reha-Aufenthaltes“. Dieser Anspruch soll zwischen den Eltern auch geteilt werden können (siehe Gastkommentar auf Seite 19). Thomas Wieser ist im Brotberuf Präsident der Arbeiterkammer Niederösterreich. 2008 erkrankte seine damals 8-jährige Tochter an Leukämie und Wieser stellte nach ihrer glücklichen Heilung fest, dass es keinerlei Kinderplätze für eine Nachversorgung in Österreich gab. Mit der Gründung des Fördervereins sorgte er – auch nach Ansicht der seit Jahrzehnten aktiven Kinder-MedizinnerInnen des ÖGKJ – für die notwendige politische und mediale Aufmerksamkeit, um das Thema Kinderreha entscheidend anzuschieben. Der Förderverein sorgte für den politischen Antrieb, die KindermedizinerInnen des ÖGKJ zeichneten für die inhaltliche Ausgestaltung verantwortlich. 2015 kam es zur alles entscheidenden Einigung zwischen Sozialversicherungsträger und Bundesländern über ein jährliches Gesamtfinanzierungsvolumen von 33 Mio. Euro. Damalige Gesundheitsministerin: Sabine Oberhauser. Der Grund, warum Kasse und Länder gemeinsam an den Verhandlungstisch gebeten wurden, erlaubt einen tiefen Blick in das heimische Gesundheitssystem: Bis dahin waren bei Kindern die Länder für die Rehabilitation von angeborenen Störungen zuständig, die Sozialversicherung bei erworbenen Störungen. Das kann man eigentlich nicht erfinden.

Fünf Jahre nach Ausschreibung des österreichischen Reha-Planes landet die Kritik dort, wo sie schon beim Start geäußert wurde: beim Geld. Kernbestandteil der Vergabekriterien war – neben den qualitativen Vorgaben – das Taggeld: Jeder Betreiber muss bei seiner Kalkulation mit einem Tagsatz von 250 Euro auskommen. Pädiatrie-Primar Reinhold Kerbl wusste damals schon: „Kinder­reha ist kein Geschäft.“ Eine Ansicht, die die Betreiber der Reha-Zentren heute nur mehr zähneknirschend hinnehmen. „Mit einem Tagsatz von 350 Euro kommen wir durch. Die aktuelle Vergütung von 250 Euro mündet in Mangelwirtschaft“, fordert Christian Köck einen spürbaren Aufschlag. Köck ist Geschäftsführer der Health Care Company und Betreiber der beiden kokon-Häuser Bad Erlach und Rohrbach-Berg. Seine drückendste Kostenposition ist die Betreuung. Die Annahme, dass sich die begleitenden Eltern außerhalb der Therapien um ihre Kinder kümmern könnten, laufe zunehmend ins Leere. Zum einen sind die Kinder oft die Symptomträger der häuslichen Umstände, und zum anderen sind die Eltern oft nach Wochen und Monaten der Sorge um den Sohn oder die Tochter am Ende ihrer Kräfte. „Die Begleitpersonen benötigen nicht selten selbst Therapien“, erzählt Köck. Der zusätzliche Betreuungsaufwand münde in höhere Personalkosten. Wobei: Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen sind auch in der Reha kaum zu finden. Christian Köck seufzt: „Da geht es uns wie allen Gesundheitsdienstleistern.“    //

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